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  • sfinke7

Radsportverrückt

Aktualisiert: 24. Aug. 2023

Es ist Sommer, es ist Tour de France. Tour de France Femmes, um genau zu sein. Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren gibt es das prestigeträchtigste Radrennen der Welt endlich wieder für Frauen. Auch ich möchte meinen kleinen Beitrag zur Feier dieser überfälligen Wiedergeburt leisten, und was wäre dazu besser geeignet als ein Bericht über eine Athletin, die dabei war, als es in den Achtzigern schon einmal für wenige Jahre eine offizielle Frauen-Tour gab? Die außerdem gerade mit ihrer Tochter fiebern kann, weil diese als Fahrerin bei der Neuausgabe am Start steht? Petra Koch (geb. Stegherr), die Mutter von Franziska Koch, hat mir vor einigen Wochen in einem meiner Recherche-Interviews Einblicke in den Frauenradsport zu ihrer Zeit gegeben und mir damit den Einstieg in den sportgeschichtlichen Teil meiner Recherche sehr erleichtert. Eine bessere Gelegenheit, um ein wenig davon erzählen, kann ich mir kaum vorstellen.


Petra Koch (Stegherr)
Das Leuchten in ihren Augen sagt alles. Petra Koch während der Tour de France Féminin im Jahr 1985. (© Petra Koch, privat)

Petra Koch spricht gern vom „Virus“, wenn es um die Radsport-Leidenschaft geht. Und dieses Virus, oder die Empfänglichkeit dafür, ist in ihrer Familie eine Erbkrankheit. „Mein Vater war auch Rennfahrer“, erzählt sie. „Meine Mutter und mein Vater haben sich beim Rennen kennengelernt, weil meine Mutter dort ihren Bruder betreut hat. Also meine Mutter ist selbst keine Rennen gefahren, aber war immer an der Rennstrecke dabei, da haben die beiden sich kennengelernt. Deswegen war Radsport eigentlich zuhause immer irgendwo ‘n Thema.“ Mit Rennen angefangen habe sie aber trotzdem verhältnismäßig spät, nämlich erst mit dreizehn oder vierzehn. Da weckte die geschwisterliche Konkurrenz ihren sportlichen Ehrgeiz. „Mein Bruder ist drei Jahre älter als ich. Wo der dann sagte, er wollte auch mal Rennen fahren, da hab ich gesagt: was der kann, kann ich auch.“


Es war der erste Krankheitsschub. „Ich glaube ein Rennen bin ich gefahren“, erinnert sie sich, „dann hatte ich Konfirmation, und von dem Geld hab ich mir ‘n Rennrad gekauft, ein gutes Rennrad.“ Ihr bisheriges Rad sei ein gebrauchtes gewesen, das ihr Vater ihr zusammengebastelt habe. Ausreichend für den Einstieg, aber nichts zum Schnellsein. „Da hab ich gesagt: nee, wenn ich das nächste Rennen fahr, dann will ich auf jeden Fall ein gutes haben. Und das war dann das Konfirmationsgeld, was ich dafür ausgegeben habe.“ Seitdem war der Fall klar. „Da ist man dann so in dem Virus drin gewesen, also wenn man einmal anfängt, dann ist man drin. Es lief auch relativ gut für mich direkt von Anfang an, ich hatte viel Spaß, die Erfolge kamen auch recht schnell. Und ja, ab dem Augenblick waren meine Eltern dazu verdonnert, mich und meinen Bruder zu den Rennen zu fahren.“


Petra Koch trainierte zunächst im RV Edelweiß Mettmann, ihrem Heimatverein, dann wechselte sie aufgrund der besseren Trainingsmöglichkeiten zum RC Schwalbe Solingen. „Die hatten ja auch ‘ne Radrennbahn, die Solinger Radrennbahn, da konnte ich dann trainieren. Außerdem hatten sie auch damals Hallentraining für die Wintermonate.“ Und es gab noch einen Pluspunkt: „Der Solinger Verein hatte mehrere Mädchen. Das war natürlich schön, wenn man mal mit ‘n paar Mädels rumfahren konnte. Also das passte eigentlich vorne und hinten.“


Ebenso wichtig war ihr aber das Training innerhalb der Familie. „Mein Vater und mein Bruder, das waren so am Anfang die Haupttrainingspartner, die ich hatte. Irgendwann hab ich dann meinen Mann kennen gelernt, der ja auch Rennfahrer war und ebenfalls aus ‘ner Radfahrerfamilie kam. Dann hab ich natürlich viel mit ihm trainiert, das war dann für meinen Vater so ‘n bisschen – ja, er musste loslassen. Aber das Training wurde eigentlich am Anfang hauptsächlich von meinem Vater gemacht.“


Schnell war Petra Koch auch in Auswahlkadern, zunächst im Landesverbandskader NRW und dann in der Nationalmannschaft des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR). Denn wirklich Konkurrenz gab es für talentierte Radrennfahrerinnen in Deutschland zu ihrer Zeit irgendwann nur noch auf internationaler Ebene. „Das ging relativ zügig, muss ich sagen. Damals waren die Klassen ja noch ganz anders wie heute. Ich glaube, die weibliche Jugend und Juniorinnen, das war damals eine Klasse, die hieß ‚Mädchenklasse‘, für vier Jahre. Und ich weiß noch, in meinem letzten Jahr bin ich eigentlich schon nur noch ‚Frauen‘ gefahren. Mit Sondergenehmigung natürlich, weil ich eigentlich noch in die kleinere Klasse gehörte, aber da gab‘s nicht so viele Rennen, nicht so viel Konkurrenz und alles, und man ist also dann schon in der höheren Klasse bei den Frauen mitgefahren, auch mit Weltmeisterschaften. Ute Enzenauer, die ist ja auch als Siebzehnjährige damals schon Weltmeisterin geworden, also eigentlich noch gar keine Frauenfahrerin.“


Ute Enzenauer ist Jahrgang 1964 und somit ein Jahr älter als Petra Koch. Den Weltmeistertitel erradelte sie sich 1981 in Prag, als immerhin schon dritte Deutsche. 1978 war Beate Habetz der Clou gelungen, und 1965 siegte Elisabeth Eichholz für die DDR. Zu dieser Zeit konnten Frauen in der Bundesrepublik noch überhaupt nicht an Weltmeisterschaftsrennen teilnehmen, weil der BDR sich querstellte. Erst 1967 setzten sich auch dort nach denkwürdigen Debatten die Befürworter*innen von Straßenweltmeisterschaften für Frauen qua Mehrheitsentscheid durch. Als Petra Koch selbst das erste Mal bei einer WM am Start stand, war das nicht viel mehr als fünfzehn Jahre her.



Aktive Zeit in den Achtzigern


Viel zu spüren ist davon in ihren Erzählungen jedoch nicht mehr. Es sind keine Rebellionsgeschichten, die ich von ihr höre. Nirgends, an keiner Stelle unseres Gesprächs, bekomme ich den Eindruck, sie habe sich gegen Ressentiments behaupten oder gar über Steine klettern müssen, die man ihr in den Weg gelegt haben mochte. Nicht einmal als ich sie schließlich direkt danach frage, wie eigentlich ihr weiteres Umfeld auf ihre Radverrücktheit reagiert habe. „Eigentlich nur gut“, lautet ihre Antwort. „Würd ich sagen. Also auch jetzt so schulmäßig, ich wurd da nie irgendwie gehänselt oder sonst was. Ich war ja dann auch viel unterwegs, die Einsätze waren ja dann auch da, mit der Nationalmannschaft, die haben ja nicht auf die Ferien gewartet. Selbst als ich mit der Ausbildung angefangen habe, hier im Kreis Mettmann. Die haben mich auch freigestellt, haben mir Sonderurlaub gegeben für diese Zeit, wo ich eben dann brauchte, um die Einsätze wahrzunehmen.“ Rad zu fahren und vor allem Radrennen zu fahren scheint einfach ihr natürliches Element gewesen zu sein, deshalb hat sie es gemacht. Und nebenbei die Schule. Und die Ausbildung zur Vermessungstechnikerin. Und die Arbeit bei der Kreisverwaltung Mettmann, wo sie nach ihrer Ausbildung bleiben und sogar nach langjährigen Erziehungszeiten für ihre vier Kinder wieder einsteigen konnte.


Ich möchte noch einen genaueren Eindruck bekommen, was es bedeutete, in den Achtzigern Radrennfahrerin zu sein, deshalb frage ich nun viel über ihren Rennalltag. Auf wie viele Renntage sie so in etwa gekommen sei? „Also das war schon so, dass man geguckt hat, immer unterwegs zu sein. Dass man eben jede Woche ‘n Rennen fuhr. Man kam also in der Saison so auf vierzig, fünfzig Rennen.“ Dabei profitierte sie davon, dass es in Deutschland zu dieser Zeit noch viel mehr kleinere Radrennen gab als heute. Die ausrichtenden Vereine mussten noch nicht mit so großen bürokratischen Hürden kämpfen und ehrenamtliches Engagement im Sportverein war noch weiter verbreitet. Aber längst nicht jedes Rennen hatte auch einen Frauenwettbewerb. „Es gab Rennen für Frauen“ erzählt sie, „nur man musste eben weit reisen. Da konnte es sein, dass in Wuppertal ‘n Rennen war, und wir sind dann nach, keine Ahnung, Nürnberg gefahren, weil die ‘n Frauenrennen hatten. Passierte dann auch schonmal.“


Und auf internationaler Ebene? Was für Rennen gab es da? „Also die ganzen Frühjahrsklassiker gab’s nicht“, sagt sie mit leichter Ironie. „Da war nix.“ Dass es die für Frauen gibt, ist eine Entwicklung erst der letzten Jahre (mehr dazu u.a. in meinem Bericht über Romy Kasper im Abschnitt über Paris Roubaix). Mailand-San Remo gab es für wenige Jahre in einer Frauenausgabe, allerdings deutlich nach Petra Kochs Zeit (nämlich von 1999 bis 2005 unter dem Namen Primavera Rosa). Was es aber gab, waren attraktive Etappenrennen. In den USA wurde von 1980 bis 1988 das Coors International Bicycle Classic für Männer wie für Frauen ausgetragen. Auch am Giro d’Italia, den es seit 1988 für Frauen gibt, stand Petra Koch am Start. Außerdem erinnert sie sich an eine Rundfahrt in Norwegen: In den Jahren 1983 bis 1993 gab es dort den Postgiro Grand Prix (ab 1987 unter dem Namen Postgiro Norway). Die erste Ausgabe gewann übrigens Petra Kochs deutsche Kollegin Sandra Schumacher.

Die Umfänge der Rennen waren häufig geringer als heute, zumindest was die Eintagesrennen und auch die Länge der einzelnen Etappen bei den Mehrtagesrennen angeht. Die Anzahl der Etappen hingegen war teilweise sogar höher: Die Tour de France der Frauen, zu der ich später noch komme, hatte in ihren besten Zeiten bis zu siebzehn Etappen. „Also so viel ich mich erinnern kann, war ein Rennen mit achtzig Kilometern schon ein langes Rennen. Ich weiß noch, irgendwann bin ich ‘ne Weltmeisterschaft gefahren, die war sechzig Kilometer lang. Heutzutage fahr’n die 140 Kilometer!“ Laut Pro Cycling Stats dürfte das die WM von 1983 in Altenrhein in der Schweiz gewesen sein, wo Petra Koch auf Rang 12 fuhr. Länger als gut siebzig Kilometer war in den Achtzigern kein Weltmeisterschaftsrennen der Frauen. „Deswegen war das im Grunde genommen ja auch gut machbar“, erklärt sie. „Ich hab ja trotzdem gearbeitet, und hab eben dann nach Feierabend meine Runden gedreht. Das würde heutzutage ja gar nicht gehen. Wenn ich Franzi angucke, was die für Trainingsumfänge hat, und auch noch das ganze Stabitraining und Krafttraining, das gab es damals überhaupt nicht. Da ist man Rad gefahren, mehr nicht. Im Winter, klar, da hat man natürlich Hallentraining gemacht oder Lauftraining, aber im Sommer ist man nur Rad gefahren. Das ist schon ‘n riesen Unterschied.“


Dadurch, dass sich der Frauenradsport in der jüngeren Vergangenheit so professionalisiert hat und immer mehr Frauen – wie Franziska Koch – die Chance haben, von ihrem Sport zu leben, können sie auch ein ganz anderes Trainingspensum bewältigen. Die gewachsenen Umfänge der Rennen sind eine Folge dieser Entwicklung. „Also im Grunde genommen kann man sagen, wenn man heute vorn bei den Profis mitfahren möchte oder auch die Profirennen gut fahren möchte, kann man eigentlich nicht mehr nebenher arbeiten. Also das ist eigentlich nicht machbar. Manche studieren noch, das mag vielleicht noch gehen, aber so wirklich acht Stunden arbeiten, und dann noch das Trainingspensum, das klappt meistens nicht mehr.“


Vom Radsport zu leben, das sei zu ihrer Zeit ausgeschlossen gewesen. „Wir waren reine Amateurinnen. Also ich war schon stolz, ich hatte damals ‘n Radsponsor. Ich musste mich zumindest nicht um meine Fahrräder kümmern, sondern habe dann jedes Jahr ‘n Fahrrad gekriegt. Aber das war schon das höchste der Gefühle! Und da war ich schon stolz! Das war ja auch viel Geld. Also aber Reisekosten oder sonst irgendwas – vielleicht hat der Verein ‘n gutes Prämiengeld gegeben, das kam dann noch dazu. Wenn man eben gute Rennen gefahren hat, dann gab’s für ‘n ersten Platz, keine Ahnung, zwanzig Euro, für ‘n zehnten Platz gab’s noch zwei Euro. Und am Ende der Saison hat man dann eben fünfhundert Euro mal gekriegt, das war dann schon sehr viel Geld.“ Preisgelder hingegen, erinnert sich Petra Koch, seien oft kaum höher gewesen als die Startgebühren.


Besonders lange zurück liegen diese Zeiten noch nicht. Dass Preisgelder bei Frauenrennen auf ein vergleichbares Niveau angepasst werden wie bei den Männerrennen, ist eine Entwicklung der letzten Jahre, und sie ist noch längst nicht abgeschlossen. Mindestgehälter gibt es nur in den WorldTour-Teams, den Teams der obersten Kategorie, und dies erst seit 2020. Auch Romy Kasper, deren aktive Zeit in den Nullerjahren begann, erzählte mir, dass sie bei den meisten Teams für ein „Taschengeld“ gefahren sei und eine Professionalisierung erst in Frage kam, als ihr die Sportförderung der Bundeswehr dafür den Weg freiräumte.


Der Unterschied aber war: Es gab immerhin Frauen-Teams. Zu Petra Kochs aktiver Zeit war nicht einmal das der Fall. „Da war noch nichts mit Mannschaftsfahren“, stellt sie lakonisch fest. Kleinere Rennen bestritt sie auf eigene Faust im Vereinstrikot. Größere internationale Rennen konnten nur mit der Nationalmannschaft gefahren werden. „Ich meine, dass damals die Nürnberger dann mit einer Mannschaft anfingen. Das war so der Anfang überhaupt, dass es mal ‘ne Frauenmannschaft gab. Ich glaub die Nürnberger waren das. Dass die mal sowas auf die Beine gestellt und probiert haben. Ich war aber nie ein Teil davon.“


Dafür war sie schlichtweg wenige Jahre zu früh dran. Petra Kochs letzte Saison als Aktive war im Jahr 1989. „Mein Mann und ich haben gesagt: Dieses Jahr nehmen wir noch mit, und 90 fahr ich nicht mehr, weil wir einfach auch die Familie gründen wollten.“ Im selben Jahr kam ihre erste Tochter Katja auf die Welt, ein gutes Jahr später ihr erster Sohn Michel. Es folgten einige Jahre, in denen der Radsport für sie sehr im Hintergrund stand. „Da hätten Sie mich über Kinderlieder fragen können“, lacht sie. In dieser Zeit war es, dass sich Bundesliga-Mannschaften für Frauen zu gründen begannen. So entstand etwa im Jahr 1994 auf Initiative der damaligen Frauenwartin des Bayerischen Radsport-Verbandes Ilse Lehner-Eckhart ein Team, das im Trikot des Nürnberger Vereins „Tourenclub Nürnberg“ starten sollte. Im Laufe weniger Jahre entwickelte sich daraus die berühmte Equipe Nürnberger Versicherung, an der auch international bald kein Weg mehr vorbeiführte. Regina Schleicher, Vera Hohlfeld, Hanka Kupfernagel, Petra Roßner, Judith Arndt, Trixi Worrack – alle großen Namen des Frauenradsports in den Neunziger und Nullerjahren stehen in enger Verbindung mit der Equipe. Auch Lisa Brennauer und Romy Kasper begannen dort noch ihre Karrieren, kurz bevor der Sponsor sich zurückzog und eine beeindruckende Erfolgsgeschichte mit der Saison 2010 ihr Ende fand.



Die Tour de France féminin


Aber auch wenn Petra Koch noch nicht in den Genuss eines von einem Großsponsor getragenen Frauen-Teams mit internationalem Renommee kommen konnte – die Achtziger hatten ein ganz besonderes Highlight zu bieten: Die Tour de France Féminin. So jedenfalls hat Petra Koch dieses Rennen erlebt. Sie kommt in unserem Interview schon darauf zu sprechen, bevor ich überhaupt irgendetwas zu den Rennen ihrer Zeit fragen kann, nämlich als ich ganz allgemein von ihr wissen will, ob es bestimmte Erlebnisse auf dem Rad gab, die sich für sie als besonders wichtig, schön oder wertvoll eingeprägt hätten. „Also“, lautet ihre Antwort, „was für mich früher ‘n ganz großes Ereignis war: damals gab’s ja die Tour de France für Frauen. Die lief ein paar Jahre parallel zu den Männern, also wirklich diese drei Wochen. Wir hatten zwar mehr Ruhetage, aber im Grunde genommen waren wir auch drei Wochen unterwegs, und die durfte ich eben auch zweimal mitfahren.“


Die Tour de France Féminin fand erstmals 1984 statt und wurde von der Société du Tour de France (die später in der ASO aufging) als offizielle Frauen-Tour-de-France organisiert. Gefahren wurden die Etappen des Männerrennens, gekürzt, aber mit gleichem Zielort, insbesondere auch mit Ankunft auf den Champs Elysees. Ein berühmtes Pressefoto zeigt die Siegerin der ersten Ausgabe, Marianne Martin, an der Seite von Laurent Fignon bei der Ehrung in Paris. Petra Kochs erfolgreichste Tour-Teilnahme war im Jahr 1985. Laut Pro Cycling Stats umfasste das Rennen zu dieser Zeit siebzehn Etappen, zwei davon Einzelzeitfahren über eine Distanz von rund 20 Kilometern. Hinzu kam noch ein weiteres kleines Zeitfahren als Prolog. Die Etappenlängen lagen zwischen 65 und 102 Kilometern. Petra Koch belegte am Schluss Rang 12 in der Gesamtwertung; in der Punktewertung lag sie sogar auf Rang vier. Auch auf mehreren Etappen konnte sie als Vierte über den Zielstrich fahren.


„Das war schon ein besonderes Erlebnis“, erzählt Koch. „Drei Wochen durch Frankreich zu karren, vor den Zuschauerkulissen, die ja sowieso da sind! Die warten ja auf die Männer, und haben uns da wirklich mit offenen Armen empfangen. Wir hatten ganz viele Transfers und mussten auch ganz viel Auto fahren, aber diese Atmosphäre, die war gigantisch. Also von den Zuschauern her. Wir sind ja auch die Pässe hochgefahren, nicht so viel wie die Profis, nicht so lang wie die Profis, aber die Leute waren da und haben einen angefeuert. Und wann konnte man schonmal ‘n Tourmalet im Rennmodus hochfahren? Konnte man sonst gar nicht! Also das war schon ein Erlebnis.“


Leider blieb es nur ein kurzes Intermezzo. Mit der Saison 1989 war bereits wieder Schluss. In den Neunzigern gab es eine Neuauflage durch Pierre Boué unter dem Namen Tour Cycliste Féminin. Da das Rennen seitdem organisatorisch vom Männerrennen getrennt war, musste Boué es 1997 nach einem verlorenen Rechtsstreit mit der ASO um den Markennamen „Tour“ in La Grande Boucle Féminine umbenennen. So verdient sich Boué einerseits mit seinem Engagement für das Rennen um den Frauenradsport in Frankreich machte, so umstritten scheint er doch andererseits auch gewesen zu sein. In einem Artikel in der TAZ aus dem Jahr 2002 wird Jochen Dornbusch, der damalige Nationaltrainer der Frauen, in Bezug auf den ehrgeizigen Renndirektor mit der Bezeichnung „Mini-Napoleon“ zitiert. Mit seinem Einsatz für das Rennen schieße er über das Ziel hinaus; organisatorische Mängel und viel zu viele Transfers seien die Folge. Auch Judith Arndt, die 2001 und 2003 jeweils Dritte im Gesamtklassement werden konnte, äußert sich in demselben Artikel eher verhalten über die Tour. „Es gibt schönere Rennen und auch schwerere“, wird sie zitiert. So verschwand das Rennen 2009 schließlich aus dem Rennkalender.


Vielleicht ist es diese wechselvolle Geschichte (hier nochmal ausführlicher erzählt, inklusive des berühmten Fotos), die Petra Koch mit leichter Skepsis auf die aktuelle Neuauflage blicken lässt. „Es wird nicht mehr so kommen, auch wenn dieses Jahr die Tour de France angeboten wird für eine Woche“, sagt sie. Nicht mehr so, wie sie es erlebt hat. „Einfach weil der Flair irgendwo weg ist. Wir waren ein Teil der Tour de France der Männer. Und das ist jetzt natürlich mit ‘ner Extraveranstaltung – was super ist für die Frauen! Also ganz klar, das war der nächste Schritt, der gemacht werden musste, dass die auch so ‘ne Rundfahrt gerade in Frankreich kriegen. Aber dieser Flair, der wird wahrscheinlich nicht so rumkommen wie bei den drei Wochen, die wir hatten.“


Andererseits ist ein eigenes Rennen im Anschluss an das Männerrennen besser im Hinblick auf TV-Übertragungen und Berichterstattung in der Presse, weil sich Männer- und Frauenrennen dann nicht gegenseitig die Sendezeit wegnehmen oder um die Kapazitäten der verschiedenen Medien für vor-Ort-Reportagen konkurrieren müssen. Am Giro d’Italia der Frauen, der parallel zur Tour de France der Männer stattfindet, kann man jährlich sehen, wie das Frauenrennen von der Hypothek dieser Überschneidung geradezu erdrückt wird. Sogar in diesem Jahr, in dem die angekündigte Neuauflage der Frauen-Tour ja durchaus mediale Aufmerksamkeit erfährt, musste man nach Berichterstattung über den Frauen-Giro mühsam suchen (und bei einem gewissen öffentlich-rechtlichen Anbieter, der zur Tour de France jedes Jahr ein regelrechtes multimediales Feuerwerk abbrennt, suchte man leider sogar erfolglos). Die Hoffnung bleibt also, dass sich die Frauen-Tour als ein eigenes Highlight etablieren kann, gerade weil sie nicht parallel zum Männerrennen stattfindet. Um nicht zu sagen: Sie wächst mit jeder Etappe. In den Live-Übertragungen sieht man das Peloton durch bunt geschmückte Ortschaften fahren, in denen es an Zuschauern nicht fehlt. An den Bergwertungen und bei den Zielankünften herrscht allem Anschein nach großartige Stimmung. Das Kalkül der Veranstalter*innen, mit ihrer Streckenplanung für animierte Rennverläufe und tolle Bilder zu sorgen, ist bisher voll aufgegangen (wer es noch nicht gesehen hat – unbedingt einmal in die vierte Etappe mit den „Chemins blancs“ hineinschauen!).


Vor allem aber nähren die Fahrerinnen selbst die Hoffnung. Der Frauenradsport ist so attraktiv wie noch nie zuvor, das sagt auch Petra Koch. „Also, ich wünsch es dem Frauenradsport, dass er so weit kommt, weil er hat’s wirklich verdient. Was die jetzt heutzutage für eine Leistung bringen, das ist Wahnsinn. Das kann man gar nicht mehr mit früher vergleichen, überhaupt nicht.“ Als ich sie zum Schluss des Interviews frage, was sie sich für den Frauenradsport für die nächsten Jahre wünsche, sagt sie deshalb auch: „Im Grunde genommen, dass der Weg, den sie jetzt die letzten Jahre eingeschlagen haben, weitergeht. So spannend wie in den letzten Jahren, ist er eigentlich früher nie gewesen. Wenn man jetzt sieht, was die sich für Kämpfe leisten! Da ist immer Action, ist immer irgendjemand, der attackiert, irgend ‘ne Mannschaft, die macht und tut, und das ist genau der richtige Weg, um auch Leute zu begeistern. Dass sie eben einschalten und zusehen. Also das wünsch ich dem Frauenradsport, und damit kommt dann auch die Publizität dann von alleine.“



Eine lebenslange Leidenschaft


Petra Koch persönlicher Weg im Radsport ist es ebenfalls immer weitergegangen. Aufgehört hat sie nie. „Also ohne Fahrrad, das ist ‘ne Strafe“, lacht sie. „Das Fahrradfahren ist Teil meines Lebens, es ist schön, man ist draußen, man sieht viel, viele unterschiedliche Gegenden. Hat mir einfach schon immer viel Spaß gemacht, und das ist auch was, was geblieben ist. Also ohne Rad fahren – das wär nur ‘n halbes Leben.“


Kurzzeitig hatte sie sogar überlegt, nach der Geburt ihrer Kinder wieder mit dem Rennfahren zu beginnen. „Also ich muss sagen, ich hab schon zwischendurch so ’n Rappel gehabt, nicht international, sondern hier so die kleineren Rennen, wo ich dann auch ein oder zwei Jahre gesagt hab, ok, ich will doch wieder an die Rennstrecke. Mit Kindern. Aber damals sind meine zwei Älteren auch schon gefahren, und dann hab ich irgendwo auch festgestellt, es ist für mich auch Stress. Ich will ja die auch begleiten, ich will ja denen ihr Rennen auch gucken, wenn ich aber direkt danach Start habe, muss ich mich ja warm fahren, dann kann ich die nicht angucken. Also es war dann schon so, wo man dann überlegt hat: Ja, man hat eigentlich Spaß am Rennenfahren, und man kann es eigentlich auch noch ganz gut und man kriegt es auch noch – für die normalen, kleinen Rennen – gut unter. Da muss man ja keine fünf Stunden trainieren fahren und alles. Also das hat schon gejuckt und hat auch Spaß gemacht. Aber dann war da dieser Spagat. Die eigenen Kinder fahren, man möchte da ja auch dabei sein, und auf der anderen Seite will man selber fahren und auch gut fahren. Da hab ich dann irgendwann gesagt: Okay. Eigentlich bist du aus dem Alter raus.“


Das Virus wollte weitergegeben werden, und man kann Petra Koch in dieser Hinsicht durchaus als „Superspreaderin“ bezeichnen. Zwei ihrer vier Kinder haben es bis zu den Profis geschafft. Aus eigenem Antrieb, ohne Druck, aber mit sehr viel Verständnis und Unterstützung vonseiten der infizierten Eltern. So, wie sie es selbst als Kind und Jugendliche von ihren Eltern erfahren hat. Michel, der ältere Sohn, traf sogar die Entscheidung, zur Verwirklichung seines Zieles auf eine Sportschule zu wechseln. „Der hatte mit vierzehn, fünfzehn den Traum, er wollte Profi werden“, erzählt Petra Koch, „und wusste aber genau, gerade bei Jungs ist das sehr schwer. Und dann hat er gesagt, er wollte nach Cottbus ins Internat.“ Letztlich war es ihre eigene Vergangenheit als Spitzenathletin, die ihr in dieser Zeit half, das Kind ziehen zu lassen. „Das ist schon ein Schritt, wenn man dann einen hergibt, und sagt: okay, wir erlauben dir das, weil das dein Wusch ist, und man ihn dann sechshundertfünfzig Kilometer entfernt im Internat abgibt und den Erziehern sagt: so, da ist der Kleine, passt gut auf ihn auf. Aber als ich das Internat und die ganzen Trainingsbedingungen und alles gesehen hab, da hab ich zu meinem Mann gesagt: Wenn das früher gegeben hätte, ich wär auch hier.“


Michel Koch fuhr unter anderem bei Cannondale Pro Cycling und nahm 2014 am Giro d’Italia teil. 2016 beendete er seine Karriere. Franziska Koch konnte sich im WorldTour-Team DSM etablieren. Nach ihrer Teilnahme am Giro diesen Sommer steht sie nun auch im Aufgebot für die Tour de France Femmes und leistet für die Top-Sprinterin Lorena Wiebes sowie für die Klassementfahrerin Juliette Labous wichtige Helferinnendienste. Zum Radfahren gezwungen wurde aber niemand, betont Petra Koch. Max, der jüngere Sohn, habe beispielsweise mit zehn Jahren gesagt, Radsport sei nicht so seins, er wolle lieber reiten. „Das mussten wir akzeptieren. Er hatte seinen Spaß, wir haben das genauso unterstützt und alles, und er hat da auch seinen Weg gemacht. Er ist heute noch mit den Pferden verbunden.“


Ob es ihre Sicht auf den Radsport verändert habe, seit sie ihn aus Elternperspektive begleite, möchte ich noch von ihr wissen. Dabei denke ich vor allem an die rauen Seiten dieses Sports. Ich selbst habe festgestellt, dass ich die Rennen anders anschaue, seit ich durch meine Interviews so zu sagen einzelne Athletinnen aus dem Peloton „kenne“. Gerade die ersten Etappen der Tour, die leider nicht nur an Spannung, sondern auch an Blechschäden, Hautabschürfungen und Knochenbrüchen dem Männerrennen in nichts nachstanden („Tour der Leiden“), haben mir regelmäßig den Schreck durch alle Glieder gejagt. Die Gefahr zu stürzen und damit das Risiko auch schwerer Verletzungen fährt immer mit bei Radrennen. Wie muss es erst für Eltern sein, deren Kinder in der siegeshungrigen Meute mit unterwegs sind? „Klar, die Ängste sind immer da“, gesteht Petra Koch. „Auch wenn wir so die Rennen von Franzi im Fernseher gucken. Wenn man dann tatsächlich ‘n Sturz sieht, dann guckt man sofort, ist sie dabei, ist sie nicht, ah, sie ist nicht dabei, ist gut. Aber es gehört dazu. Und solange sie immer wieder aufstehen – ja das ist Teil des Berufs, sag ich einfach mal. Es muss ja auch Gott sei Dank nicht immer schlimm sein.“


In diesem Moment spüre ich eine Art positiver Gelassenheit an ihr, die an vielen Stellen unseres Gesprächs durchklang und mich neben Petra Kochs Enthusiasmus für ihren Sport von Beginn an am meisten gecatcht hat. Sie ist ein Mensch mit einer angenehm optimistischen Grundeinstellung. „Vor allen Dingen darf man diese Ängste auch nicht unbedingt dem Sportler gegenüber zeigen“, fügt sie noch hinzu. „Also wenn ich jetzt zu Franzi gehen würde und sagen würde, du, aber die Abfahrt runter brettern, in dem Tempo, wie du da, und um die Kurven so rumrasen, bist du eigentlich lebensmüde? Das würde sie nicht weiterbringen. Warum also? Da sag ich mir lieber: Sie weiß was sie tut, sie kann es, und drücke die Daumen, dass es gut geht.“


Am Schluss bekomme auch ich noch unverhofften Zuspruch. Bevor wir uns verabschieden, wünscht sie mir sehr herzlich für mein Projekt alles Gute. „Ich finde das ganz klasse, sowas“, sagt sie, „also dass man das macht und sich zutraut. Auch die Vorgehensweise.“ Letzteres bezieht sich auf meine Recherche-Gespräche mit Athletinnen. „Bevor man sich irgendwas zusammenreimt oder irgendwo aus’m Internet zieht, sich Informationen reinzuholen, find ich genau richtig. Liest man ja auch öfters mal hinten auf den Büchern: Danke an die und die, die mich da irgendwo eingearbeitet haben oder mir Einblicke in, keine Ahnung, die Polizeiarbeit gegeben haben. Den Weg finde ich eigentlich realistischer, als wenn man nur im Computer sucht und sich dann irgendwas zusammenreimt.“


Als hätte sie geahnt, dass ich zu den Menschen gehöre, denen man öfter mal gut zureden muss. Also, liebe Petra Koch: Einen Platz in meinen „Danksagungen“ haben Sie sicher!



© Sarah Finke, 28. Juli 2022.

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