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  • sfinke7

Die Kämpferin

Aktualisiert: 7. Apr. 2022

Mittlerweile habe ich zwei weitere Recherchegespräche mit professionellen Radrennfahrerinnen geführt. Von dem früheren der beiden möchte ich heute erzählen und dabei eine Frau portraitieren, die mich sehr beeindruckt hat: Romy Kasper.


(© Team Jumbo Visma)

Es ist ein Frühlingstag. Nicht ganz klar, aber im Laufe des Vormittags hat sich die Sonne durch den Nebel gearbeitet. Für einen Moment überlege ich, ob ich nicht doch lieber in die Laufschuhe steigen soll. Ich habe Mittagspause, und die gleichzeitig sonnige und verhangene Stimmung draußen ist sehr verlockend. Dann schalte ich den Fernseher ein.


Die Starterinnen beim belgischen Radrennen Danilith Nokere Koerse haben es trister und vermutlich auch kühler als ich. Aber es ist immerhin trocken. 125,9 Kilometer waren zu absolvieren, fünfzehn davon auf Kopfsteinpflaster. Kurze Anstiege wie die „Lange Ast“ und der Nokereberg, die aufgrund der Streckenführung sogar mehrfach absolviert werden müssen, sorgen für insgesamt gut achthundert Höhenmeter.

Als ich mich zuschalte, hat das Rennen gerade eine nervöse Phase durchgemacht, die geprägt war von Stürzen. Besonders betroffen war das Team DSM, für das auch meine dritte Interviewpartnerin Franziska Koch fährt. Sie ist selbst nicht mehr im Peloton: Ausgestiegen, weil sie sich, wie ich später via Instagram erfahre, den Arm gebrochen hat. Radsport ist ein harter Sport, bei dem Verletzungen zum Alltag gehören.

Mein besonderes Augenmerk gilt jetzt den gelbschwarzen Trikots von Jumbo Visma. Denn nicht nur Linda, sondern auch meine zweite Interviewpartnerin, Romy Kasper, steht hier im Aufgebot. Um ehrlich zu sein: Ich hätte nicht geglaubt, dass es so leicht werden würde, weitere Profisportlerinnen zu finden, die sich Zeit für ein Gespräch mit einem Noname wie mir nehmen. Aber Romy war sofort dabei, als Linda sie für mich fragte. „Sie hat mir schon grob gesagt, worum es geht und ob ich dein Projekt unterstützen möchte“, erzählt sie mir im Vorgespräch. „Da hab‘ ich gesagt: Klar, mach‘ ich.“ Die höfliche Umständlichkeit, die ich bei der Kontaktaufnahme per Textmessage an den Tag legte, man weiß ja nie, hatte sie mir schon mit dem ersten Satz verwiesen, den ich überhaupt von ihr las: „Also das ‚Sie‘ kannst du gleich mal weglassen. Meinetwegen gern ‚du‘.“


Jetzt kann ich Romy in Action sehen. Zusammen mit ihren Teamkolleginnen mischt sie fast immer vorn im Peloton mit. Nach der letzten Passage der Langen Aststraat, etwa zehn Kilometer vor dem Ziel, ist sie es, die sich eine gute Weile vor das Feld spannt, um die Lücke zu Mischa Bredewold und Femke Marcus zu schließen. Die beiden Fahrerinnen vom Team Parkhotel Valkenburg hatten sich zuvor mit einem echten „Trick für die Tribüne“ davongemacht und zwischenzeitlich einen Vorsprung von gut zwanzig Sekunden herausgefahren. Auf der langen Kopfsteinpflasterpassage am Huisepontweg heizt Romy abermals vorn das Tempo an. Dann sieht man, wie sie sich umschaut und kurzzeitig hinter der ersten Reihe verschwindet, um ihre Teamkolleginnen wieder um sich zu versammeln. Es gilt, den Sprint vorzubereiten, auf das das Rennen nun zusteuert. Romy ist die Anfahrerin für ihre junge Schweizer Teamkollegin Noemi Rüegg. Also noch einmal alles geben und sie ganz vorn auf dem Kopfsteinpflaster des Nokereberg abliefern. Von dort eröffnet Rüegg das Finale. Aber es sind zu viele andere starke Sprinterinnen in ähnlich guter Position. Allen voran Franzis Teamkollegin, die überragende Lorena Wiebes. Obwohl sie nach dem Sturzpech bei DSM nur noch eine Helferin an der Seite hat, sichert sich die erst dreiundzwanzigjährige Niederländerin mit einem Sprint außer jeder Konkurrenz den Sieg um mehrere Radlängen vor der belgischen Meisterin Lotte Kopecky und der Italienerin Marta Bastianelli. Noemi Rüegg wird siebte, Romy einundfünfzigste.


Als ich wieder ins Büro aufbreche, weiß ich, wie der Titel meines Interviewberichts lauten wird. Klar, besonders originell ist das nicht. Denn natürlich ist jede Sportlerin eine Kämpferin. Für mich ist das aber eher ein Grund für diesen Titel als dagegen. Vieles von dem, was Romy erzählt, scheint mir typisch zu sein für eine Karriere im Profisport jenseits der Mainstream-Sportarten. Wer nicht einen unbedingten Hang zum Kräftemessen hat, sei es mit anderen oder sei es mit sich selbst, wird sicherlich nicht schon in jungen Jahren in eine Tätigkeit finden, in der der Wettbewerb zentraler Bestandteil ist. Die Frage ist aber, wie viel Energie in die Kämpfe jenseits der Wettkämpfe fließen muss. Dahin, sich aus Krisen und Verletzungen nach schweren Stürzen wieder zurückzuarbeiten. Und, bei einer Radrennfahrerin aus Romys Generation: Dahin, sich trotz kaum zu glaubender, tief ins System einprogrammierter Ungleichbehandlung als Frau nicht frustrieren zu lassen, sondern sich zu behaupten. Romy hat in beiderlei Hinsicht einiges investiert. Mich als unerfahrene Interviewerin hat sie zudem dadurch überrascht, mit welch einer Offenheit und Leidenschaft sie davon erzählt. Das Gespräch läuft auch ohne ausgefeilte Fragetechnik völlig mühelos, einfach weil Romy so viel zu sagen hat. Je nachdem, wovon sie spricht, wirkt sie bald schroff, fast bitter, dann wieder hingerissen von Begeisterung. Zwischendurch fließen sogar Tränen. Sport ist eben auch eine sehr emotionale Angelegenheit. Als ich nach über einer Stunde Videocall den Laptop zuklappe, denke ich deshalb nur eins: Wow.

Beim Schreiben dieses Textes merke ich dann sehr schnell die Konsequenz: Er wird viel zu lang. Anstatt zu überlegen, was ich aussortieren kann, habe ich mich jedoch entschieden, ihn genau so zu lassen, wie er geworden ist. Ich schreibe hier so etwas wie einen Blog über meine Recherche, muss also keine journalistischen Formkriterien erfüllen. Das Charakteristische meines Recherchegesprächs mit Romy, die auf fünfzehn Jahre Profisport zurückblickt, war die Themenfülle und dass sich für mich Netze zu den anderen beiden Gesprächen und auch weiteren Inputquellen zu bilden begannen. Also stelle ich genau das dar. Auch Linda wird dabei nochmal zu Wort kommen, ebenso wie Franzi, über die ich als nächstes berichten werde, schonmal zu Wort kommen wird. Heldin der heutigen Geschichte wird aber Romy bleiben, die sich durch unser Gespräch definitiv einen neuen Fan erobert hat.



Handball, Schwimmen und Klavier


Doch von vorn. Dort habe ich nämlich bisher auch meine Interviews begonnen. Als Einstieg bitte ich die Gesprächspartnerinnen, mir zu erzählen, wie sich ihr Weg in den Sport ergeben und was dafür gesorgt hat, dass es „klick gemacht“ hat. Bei Romy lag Radsport seit ihrer Kindheit in der Luft. „Meine Heimatstadt ist schon als Radsporthochburg bekannt.“ Sie stammt aus Forst in der Lausitz. „Zwar eher Richtung Stehersport, aber auch für Straßenradsport. Unter anderem kommt Andreas Klöden aus der gleichen Stadt.“ Als „Steherrennen“ bezeichnet man Ausdauerwettbewerbe auf der Bahn, in denen die Radfahrer*innen den Windschatten eines vorausfahrenden Motorfahrzeuges nutzen. Sie entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert, um Bahnrennen noch schneller zu machen und können auch zum Training von Tempohärte – „Stehvermögen“, wie man etwas altmodisch sagt – für die Straße genutzt werden. Da es Steherrennen noch nicht für Frauen gibt, fährt Romy Dernyrennen. Diese funktionieren nach demselben Prinzip, nur die Motoren der verwendeten Maschinen sind etwas kleiner. Im Juli 2019 gewann sie sogar EM-Bronze in dieser ähnlich wie die Steherrennen heute nur noch wenig bekannten Disziplin.


Auch in Romys Familie war Radsport nichts völlig Neues. „Mein Papa ist früher selber Rad gefahren. Aber nur bis zum Amateurbereich, weil er dann Ausbildung gemacht und es zeitlich einfach nicht mehr gepasst hat.“ Trotzdem war das Radfahren zunächst nicht Romys einziger Sport. „Prinzipiell war ich als Kind echt sehr, sehr sportlich“, sagt sie, „habe Handball gespielt und bin geschwommen.“ Letzteres sogar als Leistungssport. „Irgendwann musste ich mich dann entscheiden, weil es – auch im Hinblick auf die Schule – zeitlich zu viel wurde.“ Zunächst sei der Handball weggefallen, dann das Schwimmen.

In der Familie lag aber auch noch etwas anderes. „Meine Mutter ist eher so die musikalische“, sagt Romy, als ich frage, ob diese ebenfalls Sport gemacht habe. „Sie ist Lehrerin, auch Musiklehrerin. Da habe ich von beiden Seiten was mitgekriegt.“ Denn tatsächlich hat Romy neben Schule und Sport auch noch acht Jahre Klavier gespielt. Leistungssport habe ihre Mutter nie betrieben. „Aber durch mich ist sie schon in den Radsport mit hineingewachsen und ist jetzt bei uns im Verein tätig, wo sie das Organisationsbüro für unsere Veranstaltungen macht.“


Als einen weichenstellenden Moment beschreibt Romy ihre Teilnahme an der „Tour de Chance“, einem Sichtungsrennen für Kinder. „Das war, glaube ich, in der fünften oder sechsten Klasse. Es fing auf Landesebene an, was ich gewonnen habe, dann ging’s auf Bundesebene mit Finale in Erfurt, wo ich dritte geworden bin.“ Danach habe sie auch mit koordiniertem Training angefangen.

Im Hinblick auf die Schule habe sie mit ihren Eltern einen Mittelweg gesucht. „Ich war gut in der Schule und wollte auch die Schule nicht vernachlässigen. Ich wusste ja, dass ich mit dem Radsport nicht wirklich reich werden oder überhaupt Geld verdienen kann.“ Bis zur zehnten Klasse blieb sie deshalb auf dem Gymnasium. Dann wechselte sie an die Sportschule in Cottbus, um dort das Abitur zu machen (übrigens ebenfalls eine Station, die in vielen Radsportler*innen-Biographien zu finden ist). Um die Koordination von Schule und Sport zu bewältigen, erfährt Romy denselben Rückhalt, von dem auch Linda mir erzählte: Familie und Verein. „Ich habe schon in der neunten und zehnten Klasse an der Sportschule trainiert, das heißt meine Eltern haben mich dann jeden Tag direkt nach der Schule die zwanzig Kilometer nach Cottbus rübergeschafft und später wieder abgeholt. Das war schon recht zeitaufwändig, aber sie haben es in Kauf genommen, um mir zu ermöglichen, Gymnasium und Sport gleichzeitig zu machen.“

Auch ihr Verein, der PSV 1893 Forst e.V., sei sehr wichtig gewesen. „Ich bin groß geworden im Verein mit vielen verschiedenen Trainern und auch verschiedenen Kindern und Jugendlichen, mit denen ich teilweise immer noch viel Kontakt habe. Außerdem wurde vom Verein überhaupt ermöglicht, dass ich zu Radrennen fahren konnte. Im Nachwuchsbereich war Papa da zwar auch viel mit unterwegs, aber das konnten meine Eltern natürlich nicht alles stemmen.“ Den Kontakt zum Verein hat sie auch nie aufgegeben. „Ich bin dem Verein bis heute viel verbunden, ich habe auch meinen Heimatverein nie gewechselt. Selbst während der Sportschule in Cottbus bin ich nie zu den Vereinen in Cottbus gegangen, sondern war meinem Heimatverein bis heute treu. Mittlerweile versuche ich auch, so viel wie möglich zurückzugeben: Sei es materialtechnisch, sei es bei organisatorischen Sachen, oder einfach nur Fachwissen, das bei ihnen vielleicht fehlt, und wo sie dann auf mich zurückgreifen.“


Ob es einen bestimmten Zeitpunkt gab, an dem ihr klar geworden sei: Ich will das professionell machen? „Ich bin eher, glaube ich, reingeglitten“, sagt sie. „Direkt nach dem Abitur habe ich auch angefangen, Sportwissenschaft zu studieren und meinen Bachelor in dreieinhalb Jahren ziemlich zeitnah durchgezogen. Nebenbei war ich eigentlich schon Radprofi, aber, ja, was haben wir damals verdient als Profi? 250 Euro im Monat. Also davon ein Leben zu bestreiten, das war mir bewusst, dass das nicht funktioniert. Außerdem war mir auch klar: Radfahren, das kann durch eine Verletzung oder sowas schnell vorbei sein.“


Einen entscheidenden Faktor gab es dann aber doch. Nach dem Bachelor bekam Romy nämlich einen Platz in der Sportfördergruppe der Bundeswehr. „Da habe ich gedacht: Ok, ich versuch’s jetzt professionell. Solange ich da mein festes Gehalt habe und abgesichert bin, solange kann ich auf die Karte ‚Sport‘ setzen und schauen, wie weit ich komme.“


Dr.*in Jekyll und Mrs. Hyde


Die Damen in gelbschwarz (© Team Jumbo Visma)

Sie ist weit gekommen, sehr weit sogar. Fast alle Stationen ihrer Karriere führen zu großen Teamnamen und echten Weltstars aus Geschichte und Gegenwart des Frauenradsports, sei es die ihrerzeit äußerst erfolgreiche deutsche Equipe Nürnberger mit Regina Schleicher und Trixi Worrack, sei es RusVelo mit Hanka Kupfernagel, sei es Boels Dolmans mit Elisabeth Deignan oder aktuell eben Jumbo Visma mit Marianne Vos (wer an Romys kompletter Teamhistorie interessiert ist, dem sei an dieser Stelle noch einmal der Podcast Besenwagen ans Herz gelegt: In der Folge #151 vom 10. Februar 2022 ist Romy dort ab ca. 35:40 Min. zu Gast, und ab 40:20 Min. werden alle ihre Stationen systematisch und äußerst informativ durchgesprochen). Zahlreiche Wettkämpfe bestritt Romy auch im deutschen Nationaltrikot. Sie war 2016 im Aufgebot für die Olympischen Spiele in Rio, ein ganz besonderes Highlight ihrer Karriere. Einen Master hat sie nebenbei auch noch gemacht und ihn 2020 mit einer Arbeit zu einem sportpsychologischen Thema abgeschlossen.


Romys Erfolg ist allerdings einer, der sich nicht immer in den Rankings ablesen lässt. Typischerweise füllt sie im Team die Rolle aus, in der sie auch bei Nokere Koerse zu sehen war: Sie organisiert den Support für eine Leaderin und übernimmt dabei selbst zentrale Aufgaben. Road Captain ist die Bezeichnung für diese Funktion. Die Kehrseite ist, dass sie dadurch ausgepowert ist, bevor sie die Ziellinie erreicht. Sie muss ihre Kräfte so einteilen, dass eine Teamkollegin als Schnellste ankommt, nicht sie selbst. Deshalb sieht man ihren Namen selten auf den Top-Plätzen der Ergebnislisten.

Ein Paradebeispiel dafür, wie essentiell solche Arbeit ist, war für mich im vergangenen Jahr die WM in Flandern. Elisa Balsamo gewann den Schlusssprint gegen Marianne Vos und wurde somit Straßenweltmeisterin. Zuvor aber hatte ihre Landsfrau Elisa Longo Borghini mit Balsamo am Hinterrad den so genannten „Sprint vor dem Sprint“ derart klar entschieden, dass überhaupt niemand als Vos noch folgen konnte. In der deutlich besseren Position, da Vos, um zu siegen, nun komplett an Balsamo hätte vorbeisprinten müssen, gelang es der zu dieser Zeit 23 Jahre jungen Italienerin, das Vorderrad vor der Grande Dame aus den Niederlanden über die Ziellinie zu bringen.


Wie sie als Helferin solche Momente erlebt, dazu gibt Romy in einem selbstverfassten Artikel für die RennRad vom 12. Juli 2021 eine packende Innensicht. Über das Rennen Gent Wevelgem 2021 schreibt sie:


„Ich weiß gar nicht mehr, wann ich raus bin und die Führung abgegeben habe. Ich weiß nur, dass ich dachte: ‚Mist, das war zu früh.‘ Ich konnte kaum mehr treten und rollte aus. Es herrschte eine minutenlange Stille im Funk. Und dann plötzlich hörte ich einen Schrei unserer Sportlichen Leiterin Lieselot Decroix. Neben mir fuhr da gerade meine Teamkollegin Nancy van der Burg. Wir haben uns kurz angeschaut und dann zusammen gejubelt, denn wir wussten, was das bedeutete: Marianne hatte gewonnen. In so einem Moment weißt du, wofür du diese ganze Schinderei auf dich nimmst.“

Genau diesen Teamspirit konnte man auch im Falle der beiden Elisas beobachten. Bei der Siegerehrung stand zwar nur eine auf dem Podium. Das ganze Team aber stand vis á vis, feierte die neue Weltmeisterin und schmetterte die Nationalhymne mit.


Ist das nicht fast zu schön, um wahr zu sein? Bereits im Gespräch mit Linda hatte mich überrascht, wie wenig sie mit meiner Frage nach Gefühlen von Konkurrenz anfangen konnte, die möglicherweise Spannungen in die kollegiale oder sogar freundschaftliche Beziehung zu den anderen Fahrerinnen im Peloton bringen könnte. Sollte es wirklich so sein, dass gerade Sportler*innen, deren täglich Brot der Wettkampf ist, ein so entspanntes Verhältnis zur Konkurrenz haben? Oder haben sie es vielleicht sogar gerade deshalb, weil sie auf diese Weise nicht nur zu Profis in ihrer Sportart, sondern auch zu Konkurrenzprofis werden? Diese Frage interessiert mich; deshalb spreche ich auch mit Romy darüber.

„Also im Team sehe ich nie ne Konkurrenz“, sagt sie. „Mit den Teamkolleginnen ist das für mich: Wir arbeiten auf ein Ziel hin, und Sieg ist Sieg, egal, wer ihn einfährt. Und parallel zu anderen, zu alten Teamkolleginnen, würde ich sagen: Radrennen ist Radrennen, und außerhalb ist außerhalb. Klar ist man im Radrennen bei verschiedenen Teams Konkurrenz. Aber wenn man sich außerhalb trifft, ist das eigentlich nie ein Thema. Also was noch ein Thema ist, das ist halt parallel als Nationalmannschaft. Da sieht man schon Konkurrenz, wenn es z.B. auf Olympia zugeht, und wir haben nur vier Startplätze. Da schaut man dann schon mal mehr oder weniger im Rennen. Aber es ist trotzdem nie wirklich außerhalb ein Thema.“


Diese klare Trennung von „Rennen“ und „außerhalb“ scheint mir eine wichtige Spur zu sein. Sportliche Wettbewerbe finden nach klaren Regeln statt, und zu diesen gehört eben auch, nach dem Wettbewerb die Rivalität einzustellen. Den Sieger*innen wird gratuliert, ihre Leistung wird anerkannt. Der französische Radprofi und studierte Philosoph Guillaume Martin sieht darin sogar einen katalysatorischen Effekt: „Dient der sportliche Wettbewerb nicht dazu, unsere animalischen Instinkte auszuleben?“, fragt er in seinem Buch Sokrates auf dem Rennrad. „In unseren Gesellschaften, die alles unter Kontrolle halten, wo kein Kopf herausragen darf und man das Fleisch ständig um Ruhe bittet, da wäre der Sport eine Art Ventil.“ Oder, an anderer Stelle: „Es ist doch besser, unsere animalischen Impulse in Form geregelter Wettkämpfe zu sublimieren, als sie verborgen zu halten und dann unvermittelt an anderer Stelle auszuleben.“

Mit diesen „animalischen Impulsen“ meint er nicht einmal nur Kampfgeist und Siegeswillen, die in letzter Konsequenz selbst in Teamsportarten immer darauf ausgerichtet sind, andere hinter sich zu lassen. Er bezieht sich damit vor allem auch auf die rauen Aspekte des Radrennsports. Wenn die Positionskämpfe für entscheidende Rennsituationen anstehen, wenn ein ganzes Peloton von fünfzig Fahrerinnen auf der schmalen Straße vorn sein, oder im Sprintfinale jede ihre Leaderin in optimale Ausgangsposition bringen will, kann es durchaus handgreiflich zugehen, es kommt zu Remplern und Rangeleien. Was Romy betrifft, so hat sie das Raufen vermutlich schon in ihrer Jugend als Handballerin gelernt. Auch dies ist eine Sportart mit hohem Körpereinsatz ...


„Der institutionelle Rahmen des Sports verwandelt unsere niederen Instinkte in heroische Taten“, fasst Martin es zusammen. Den Kontrast zwischen seinem instinktiven, teils brutalen Agieren im Rennen und der Rolle, in die er danach zurückkehrt, empfindet er als so stark, dass er es mit dem Bild von Hulk beschreibt, der nach dem Überqueren der Ziellinie wieder Dr. Bruce Banner ist, oder mit Mr. Hydes Rückverwandlung in Dr. Jekyll. Freundlich, vielleicht sogar scherzend, gibt er Interviews, analysiert das Rennen für die Presse und ist „wieder auf Distanz zu diesem entfesselten anderen, der er eben noch war“.



Stürze und Rennpause


Wirklich emotional wird das Gespräch plötzlich, als ich Romy nach ihrem Verhältnis zu den Trainer*innen frage, mit denen sie im Laufe ihrer Karriere zusammengearbeitet hat. Es ist für mich eine Routinefrage (sofern man nach drei Interviews von Routine sprechen kann). Neben dem Miteinander mit den Vereins- oder Teamkolleginnen sind dies ohne Frage die prägendsten Beziehungen für ein Athlet*innenleben, deshalb interessieren sie mich. Bei Romy stolpere ich damit allerdings mitten hinein in eine schmerzhafte Geschichte. Nachdem sie während ihrer Zeit auf der Sportschule im Zweijahresrhythmus wechselnde Trainer hatte, kam sie schließlich zu Mario Vonhof, der über zehn Jahre lang ihr Trainer blieb. „Mit dem hab ich ein echt krasses gutes freundschaftliches Verhältnis“, sagt sie. „Auch immer noch. Also, mir tat’s echt in der Seele weh, dass ich ihn abgeben musste.“ Denn das war der Wermutstropfen ihres Wechsels zu Jumbo Visma: Sie musste sich von ihrem alten Trainer trennen, weil im Team nicht vorgesehen war, dass eine Fahrerin von extern trainiert wird. Da gab es auch keinen Verhandlungsspielraum. „Wir haben so viel durchgemacht zusammen. Seien es Stürze, sei es fast vom Rad steigen, weil es einfach an Stürzen zu viel wurde, bis zu dem Punkt hin, dass ich in Rio Olympiade gefahren bin, wo’s mir ein halbes Jahr oder ein Jahr vorher vom Verband noch niemand zugetraut hat, und er halt die ganze Zeit hinter mir stand. Es war wirklich eine emotionale Zeit, und es tat letztes Jahr einfach weh zu sagen: Sorry, du darfst mich nicht mehr trainieren. Oder mir tut’s halt immer noch weh.“

Als Romy davon erzählt, laufen ihr die Tränen. Deshalb habe ich zunächst Skrupel, überhaupt noch weiterzufragen. Dass sie auch schwierige Zeiten hatte, wusste ich. Von ihrer halbjährigen Rennpause kann man sogar bei Wikipedia lesen, und über ihr Sturzpech in den Jahren 2017 und 2018 berichtete unter anderem die Lokalpresse. Trotzdem ist es etwas anderes, plötzlich so unmittelbar zu sehen, was das eigentlich bedeutet. Romy allerdings signalisiert mir, dass es für sie völlig in Ordnung ist, bei dem Thema zu bleiben. Sie sei einfach ein sehr emotionaler Mensch, auch wenn sie von Rio erzähle, kämen ihr noch oft die Tränen.


Bei der Bahn-EM im Oktober 2017 in Berlin stürzte Romy im Scratch-Rennen, so dass sie im Krankenhaus untersucht werden musste. Wurde sie zunächst in der Lausitzer Rundschau noch zur „Siegerin der Schmerzen“ gekürt, weil sie trotzdem am nächsten Tag noch im Madison antrat, stand kurz darauf nach nochmaliger Untersuchung fest: Romy hatte bei dem Sturz zwei Rippenbrüche und eine Lungenquetschung erlitten, was während der Routineuntersuchung nicht erkannt worden war.

Ein Rennen fahren mit Rippenbrüchen und Lungenquetschung? Schwer vorstellbar für einen Normalo wie mich, und jetzt, mit dem zeitlichen Abstand, wohl auch für Romy selbst. „Ich glaube, da war viel Willenskraft dabei. Das war so ein Rennen, das ich unbedingt fahren wollte, während ich in dem Rennen, wo ich gestürzt bin, nur als Ersatz eingesprungen war. Diejenige, die es eigentlich hätte fahren sollen, war krank geworden. Ich hatte mich so auf das andere Rennen gefreut, das war dann eher Willenskraft oder Ausblenden von Schmerzen. Mein alter Trainer sagt immer so: Ja, du stehst eh auf Schmerzen.“ Dann erzählt sie, wie sie sich 2016, also nur wenige Monate vor Rio, während eines Rennens das Schultergelenk gebrochen hat. Bevor der Bruch schließlich diagnostiziert wurde, war sie allerdings noch aufs Rad gestiegen und ins Ziel gefahren. „Bei mir kommt der Schmerz wahrscheinlich ein bisschen später an, oder die Schmerzrezeptoren sind nicht so ausgeprägt“, sagt sie. „Schütteln so einige Leute den Kopf drüber. So war das auch in Berlin damals. Ich würde mal sagen: Ja, ich habe gespürt, dass da was ist, aber dass das so schlimm ist, hätte ich nicht sagen können. War vielleicht nicht ganz so gesund, das Rennen noch zu fahren.“


Der Sturz in Berlin bildete allerdings nur den Auftakt einer fast gespenstischen Serie. Von Januar bis Juni 2018 stürzte sie allein noch fünf oder sechs Mal. Im Januar brach sie sich wieder zwei Rippen. Im März war es das Schlüsselbein. Der Tiefpunkt aber war die Tour of Britain im Juni. „Da hatte ich eine schlimme Gehirnerschütterung und Probleme beim Sehen, also Doppelbilder und sowas. Und das war auch der Zeitpunkt, wo einige Leute gesagt haben: ‚Äh, halt, stopp. Wir nehmen dir jetzt das Fahrrad weg, du fährst jetzt erstmal ein halbes Jahr kein Fahrrad.‘ Zu allem Überfluss hatten nämlich ihre Eltern einige der Stürze live miterlebt. „Da kam dann irgendwann auch der Anruf, hat mein alter Trainer mir später erzählt, in dem sie ihn gefragt haben, ob er nicht Einfluss auf mich nehmen könnte, dass ich das Fahrrad zur Seite stelle und nicht mehr aufsteige.“


Wie kann es zu solchen Pechsträhnen kommen? Hat sich Romys Kämpfernatur hier vielleicht zeitweise gegen sie selbst gerichtet, so dass sich schließlich sogar die Menschen, die sie lieben, berufen fühlten, sie vor sich selbst zu schützen? Der „entfesselte andere“, wie Martin es nennt, kann sich durchaus zu einer Gefahr für die Gesundheit von Athlet*innen auswachsen. In jedem Rennen treibt „er“ sie an, über körperliche Grenzen zu gehen. Das gehört zum Tagesgeschäft, ohne das kann sich niemand im Spitzensport behaupten. Aber es gibt eben auch körperliche Grenzen, die nicht überschritten werden sollten: nämlich dann, wenn ernsthafte Schäden drohen. Wie kann man da, noch dazu im Hulk-Modus, entscheiden, an welcher Stelle dieser Punkt erreicht ist?

Genau das frage ich Romy: Wie sie damit umgeht. „Ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt anders als in der Zeit damals“, sagt sie. Die Wende habe dabei die Entscheidung gebracht, tatsächlich auf das Drängen ihrer nahen Menschen zu hören und eine Pause zu machen. „Ich bin ein halbes Jahr kein Rad mehr gefahren. Also ich hab’s wirklich zur Seite gestellt und mich damit abgefunden. Das war schwer zu dem Zeitpunkt und hat echt lange gedauert, aber für mich war es so’n bisschen der Zeitpunkt des Switches von dem ‚du musst‘ zu ‚nein, du musst gar nicht, du kannst‘. Du hast schon so viel erreicht, du warst bei Olympia, du musst niemandem mehr was beweisen. Alles, was du machst: Genieß es, mach’s für dich und mach’s weil du’s willst und weil du es kannst. Und ab dem Zeitpunkt war irgendwie für mich das Radfahren, Trainieren oder alles um den Sport herum ein bisschen aus einer anderen Sichtweise.“

Auf diese Weise gelinge es ihr auch viel besser, Enttäuschungen zu verarbeiten, wie etwa die bittere Tatsache, dass sie nach Rio nicht noch einmal für die olympischen Spiele nominiert worden ist. „Letztes Jahr, Tokio, das war so eine Geschichte. Die Entscheidungen vom Verband waren für mich nicht nachvollziehbar. Es hat gedauert, ich war enttäuscht, aber ich bin halt drüber weggekommen, weil ich mir gesagt hab: Ja, du musst nichts mehr beweisen, wenn sie dich nicht wollen, dann wollen sie dich nicht. Und das war wirklich ab 2019, also nach der Pause, so der Switch, wo ich gesagt habe: Boa, ich seh’s aus ner ganz anderen Sichtweise, und das macht eigentlich viel, viel mehr Spaß.“ In diesen Worten spüre ich durchaus etwas wie Trotz. Aber eben auch sehr viel von der berühmten Ruhe, in der die Kraft liegt.


Romy mit ihrem ehemaligen Trainer Mario Vonhof beim Recon Ride für ein berühmtes Rennen... (Quelle: privat)

Mittlerweile bekommen die Athlet*innen im Balanceakt zwischen gesunder Härte und Raubbau am eigenen Körper übrigens auch viel mehr Schutz von außerhalb, als das noch vor wenigen Jahren der Fall war. Gehirnerschütterungen etwa kommen im Radsport nach Stürzen sehr häufig vor. Spätestens seit den aufrüttelnden Fällen von frühzeitiger Demenz in der amerikanischen NFL weiß man allerdings, wie gefährlich es ist, nach einer Gehirnerschütterung sofort wieder in die Belastung zu gehen. Aufstehen und wieder aufs Rad steigen ist somit in einer solchen Situation das Falscheste, was man tun kann. „Also bei uns im Team ist man momentan sehr, sehr sensibilisiert in diese Richtung“, sagt Romy, als ich sie frage, ob sie glaube, dass der Radsport sich für das Thema noch etwas sensibilisieren müsse. „Nach Stürzen wird da halt wirklich komplett durchgecheckt und niemand direkt wieder auf’s Rad gesetzt. Selbst wenn man nach einem Sturz wieder direkt auf’s Rad will, aber der sportliche Leiter sieht, dass der Helm gebrochen ist, dann führt da kein Weg rein.“ Romys Helm war nach ihrem Sturz auf der Bahn in Berlin 2017, wie man in der Lausitzer Rundschau lesen konnte, in sechs Teile zersprungen.

Auch was die Regenerationszeit angeht, sei man bei Jumbo Visma äußerst vorsichtig. Die kann bei schweren oder wiederholten Gehirnerschütterungen nämlich durchaus lang und von plötzlichen Leistungseinbrüchen geprägt sein. „Wir haben aktuell eine Sportlerin, die 2020 gestürzt ist und letztes Jahr erst zur zweiten Hälfte des Jahres wieder eingestiegen ist. Selbst da hatte sie wieder diese Hochs und Tiefs. Aber wenn irgendetwas war, wurde sie vom Team direkt rausgenommen. Also sie wurde dann nicht gepusht: Du musst jetzt fahren, du bist eingeplant für das Rennen, sondern sie wurde Schritt für Schritt aufgebaut, und ist jetzt langsam wieder da, wo sie hin wollte.“



Der Pflasterstein, ein Meilenstein


Etwas von der Lust am Schmerz, die Romys ehemaliger Trainer ihr attestierte, wird auch spürbar, als ich sie schließlich nach ihren Zielen für die Saison frage. „Roubaix“, sagt sie. „Roubaix. Nichts geht über Roubaix. Dieses Jahr da unter die ersten fünf oder auf’s Podium zu fahren ist definitiv ein Ziel von mir. Alles Weitere wird sich dann zeigen. Für den Sommer habe ich nicht so die Speerspitzen, wo ich sage: Das will ich auf jeden Fall. Klar würde ich gern die Tour de France fahren. Aber wenn vom Team vorgesehen ist, dass ich den Giro d’Italia fahre, dann ist es so. Da habe ich nicht die Priorität. Um Roubaix hätten sie mich aber nicht drum gekriegt, dass ich da fahren darf.“

Das Rennen Paris-Roubaix gehört als Männerrennen zu den sogenannten fünf „Monumenten des Radsports“. Dabei handelt es sich um Wettbewerbe, die allesamt eine über hundertjährige Tradition haben und in dieser Zeit durchgehend von hohem Ansehen waren. Paris-Roubaix (das allerdings mittlerweile nicht mehr in Paris, sondern etwa 80 Kilometer nördlich in Compiègne startet) wurde 1896 zum ersten Mal ausgetragen. Charakteristisch für das Rennen sind Abschnitte über Kopfsteinpflaster, die berühmten Pavé-Sektoren. Sie summieren sich bei den Männern auf rund 50 Kilometer.

Kopfsteinpflasterpassagen machen ein Rennen besonders hart. Der deutlich erhöhte Reibungswiderstand kostet zusätzlich Kraft, die ständigen Stöße sind eine Belastung sowohl für den Organismus als auch für das Material. Außerdem ist nicht jedes Kopfsteinpflaster gleich. Die Passagen von Nokere Koerse etwa gelten als verhältnismäßig gut fahrbar. Die Pavés von Paris-Roubaix hingegen stammen teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert. Auf schmalen Rennradreifen sind sie eine immense Herausforderung an Radbeherrschung und Geschicklichkeit. Was das bedeutet, wenn außerdem die Witterungsbedingungen so sind, dass Normalsterbliche ihr Rad lieber in der Garage stehen oder überm Bett hängen lassen, war im vergangenen Jahr zu sehen. Vermutlich jeder im Peloton dürfte irgendwann einmal im Matsch gelegen haben, weil die Reifen auf dem unebenen Grund einfach wegrutschten. Die Gestalten, die am Schluss im Velodrom in Roubaix ankamen, schienen eher Lehmskulpturen zu sein als Radrennfahrer. Der Sieger Sonny Colbrelli brach im Ziel unter spitzen Schreien zusammen, von denen man nicht wusste, ob es Freudenschreie waren oder Schmerzensschreie. Vermutlich war es beides.


Das Besondere an dieser 118. Ausgabe des Rennens Paris-Roubaix (coronabedingt ausnahmsweise im Oktober und nicht wie üblich im April) war jedoch, dass es erstmals auch ein Frauenrennen gab. Wer sich durch die Bilder von Händen mit Schwielen, von schlammbespritzten Gesichtern und schließlich den ikonischen Duschkabinen im Velodrom geklickt hat, die in den Tagen danach auf den Social-Media-Kanälen der Teilnehmerinnen auftauchten, konnte vermutlich auch ohne große Radsport-Affinität spüren, dass dort etwas Besonderes geschehen war. Mit jedem meiner Interviews aber wurde mir die Bedeutung dieser Bilder noch einmal klarer. „Ist so mein Traumrennen“, sagt Romy. „Die Rennen im Frühjahr sind diejenigen, die ich am liebsten fahre, und das Highlight vom Frühjahr ist im April Roubaix. Darauf ist momentan bei mir alles ausgerichtet, weil ich schon gemerkt habe, dass es eigentlich so’n Rennen ist, was mir wirklich liegt. Und ich mich in der Vergangenheit immer darauf gefreut habe, als hochkam: Ok, Roubaix gibt’s für die Frauen, und dann wieder doch nicht, und wieder doch, und wieder doch nicht, und irgendwann hab ich dann schon nicht mehr dran geglaubt, dass ich noch auf dem Rad sitze, wenn Roubaix für die Frauen mal stattfindet. Dann war’s letztes Jahr endlich so weit. Ich hab mich echt mega drauf gefreut.“


Auch Linda spricht Roubaix im Verlauf unseres Interviews recht bald an. Als ich nachhake, was es für sie bedeutet, dass es solche Klassikerrennen auch für Frauen gibt, sagt sie: „Ich find’s ne sehr gute Entwicklung. Ich meine, ich hab‘ als Kind immer im Fernseher die großen Rennen angeschaut, und mir immer so gedacht: Cool, da würde ich eigentlich auch gern mal mitfahren. Aber z.B. die Tour de France gibt’s jetzt erst ab diesem Jahr für die Frauen, oder auch viele andere Rennen gibt’s überhaupt nicht oder noch nicht für die Frauen, und, ja, man träumt halt davon, aber man weiß eigentlich, man kann’s nie erreichen.“

Geschafft! Romy nach der historischen Ankunft im Velodrom von Roubaix am 2. Oktober 2021 (© Team Jumbo Visma)

An diesem Punkt stehe ich wirklich vor einem Rätsel. Man stelle sich z.B. einmal ein Unternehmen vor. Einen riesigen international agierenden Konzern. Frauen könnten sich ganz selbstverständlich dort bewerben, aber es wäre Usus, ihnen im Vorstellungsgespräch zu sagen: „Wir geben Ihnen den Job gern und Sie können auch viele Aufgaben bei uns übernehmen. Davon leben können werden Sie aber nicht, und die wirklich großen und prestigeträchtigen Einsätze sind leider Ihren männlichen Kollegen vorbehalten.“ So in etwa muss es sich über Jahrzehnte für junge Frauen und Mädchen angefühlt haben, die gern Radrennen fahren wollten. Oder auch Ski springen. Oder gar Ski springen und langlaufen abwechselnd (auch 2022 waren die nordischen Kombinationen für Frauen nicht bei den olympischen Spielen vertreten).

So sehr ich mich anstrenge, mir fällt nur ein anderes Beispiel ein, wo Frauen in westlichen Gesellschaften noch heute mit Strukturen konfrontiert sind, die sie derart kategorisch ausschließen: Die katholische Kirche. Der Weltradsportverband UCI, die großen Rennorganisatoren wie die ASO (die u.a. Paris-Roubaix unter ihren Fittichen hat), überhaupt der ganze Radsportzirkus mit Presse und Sponsoren, sie alle können sich also auf die Fahnen schreiben, fast so lange geschlafen zu haben wie der Vatikan.

Wenn ich es mir recht überlege, haben Kirche und Sport durchaus ihre Gemeinsamkeiten. Beides sind geschlossene Systeme innerhalb der Gesellschaften, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Der Unterschied ist, dass der Sport immerhin keinen zutiefst frauenfeindlichen Katechismus hat, sondern mit seinen gewachsenen Strukturen eher die Glaubenssätze in unserem Kopf abbildet, die durch Erziehung und Sozialisation entstehen. Schlammspritzer und Schwielen etwa sind Trophäen, mit denen Mädchen traditionell wenig Furore machen konnten. Es ist ein alter Hut, aber genau solche Klischees sind es, deren Auswirkungen im Radrennsport bis heute spürbar sind. „Radsport wurde halt immer als Männersport dargestellt“, sagt auch Romy. „Und das Problem war, dass unsere Radrennen erst in den letzten Jahren wirklich mehr Livepräsenz gekriegt haben und mehr übertragen werden.“ Auch Franziska Koch sieht das so. „Also wann sieht man Frauenradsport im normalen Fernsehen?“, fragt sie. „Wie soll ein Kind inspiriert werden, wenn es das nicht gibt? Ich glaube, für ein Mädchen ist es viel inspierierender, wenn sie eine Frau Rad fahren sieht. Wenn es immer nur Männerrennen gibt, ist es auch irgendwann als Männersport abgestempelt. Ist ja genauso mit den handwerklichen Berufen: Warum gibt es wenig Frauen, die, weiß ich nicht, z.B. Elektrotechniker sind. Ich glaube, das ist vielleicht so’n bisschen dasselbe Phänomen.“


Die berühmte Sichtbarkeit, der Angelpunkt für die Korrektur des Katechismus im Kopf. Wie das funktioniert, war – obwohl die letzte Stunde übertragen wurde! – auch an dem Rennen Nokere Koerse zu beobachten. Würde ich Radsport über sportschau.de verfolgen, was vielleicht nicht unbedingt die Plattform für die versierten Fans ist, aber doch für viele Menschen, die einfach allgemein an Sport interessiert sind, dann hätte ich über das Rennen gelesen, dass Max Walscheid als bester Deutscher Zweiter wurde, hinter dem Belgier Tim Merlier. Von Lorena Wiebes‘ überragendem Sprint hätte ich nichts erfahren. Nicht einmal, dass es dieses 1944 erstmals ausgetragene Rennen überhaupt mittlerweile auch für Frauen gibt (nämlich seit 2019).

Und jetzt kommt einer der Highlight-Momente meiner Karriere als Hobby-Radlerin. Es war auf dem Mainradweg, am Ende einer Trainingsrunde. Am Fuß einer flachen Bodenwelle springe ich aus purem Übermut aus dem Sattel und beginne einen Sprint. Im selben Moment fährt ein kleines Mädchen von der anderen Seite über die Kuppe, die meinen Sprung sieht und augenblicklich kopiert (sehr zum Amüsement ihres mitradelnden Vaters).

Ist es nicht so, dass wir auf genau diese Weise seit unserer frühesten Kindheit Verhalten lernen? Durch Nachahmung von Verhalten, das wir um uns herum beobachten? Und damit, so reflektiert wir später als Erwachsene sein mögen, auch nie ganz aufhören? Die Erfahrungen, die wir dabei machen, entscheiden darüber, ob wir das Gesehene als zu uns passend abspeichern und in unser Repertoire aufnehmen oder nicht. Je sichtbarer der Frauenradsport also ist, je selbstverständlicher er übertragen und Teil der Sportberichterstattung wird, je schneller, könnte man also sagen, auch öffentlich-rechtliche Anbieter endlich ihre Chance ergreifen, noch vor dem Vatikan aufzuwachen, umso wahrscheinlicher ist es, dass kleine Mädchen wie meine Radwegbegegnung die Erfahrung machen: Passt zu mir.

Genau davon wird für die Zukunft des Frauenradsports nun viel abhängen. Denn nachdem in den letzten Jahren durch die UCI viele der so überfälligen Anpassungen im System vorgenommen bzw. in die Wege geleitet worden sind, muss der Frauenradrennsport nun auch auf den unteren Ebenen strukturell wachsen, um mit den neu geschaffenen Möglichkeiten mithalten zu können. Romy etwa beobachtet ein Missverhältnis zwischen Rennoptionen und den Kaderstärken der Frauenteams, sozusagen als Kehrseite davon, dass klassische Männerrennen nun auch für Frauen ausgetragen werden. „Das Ding ist halt momentan, dass der Rennkalender bei uns immer voller und voller und voller wird, die Teams aber nicht wirklich das Budget haben, dass wir, so wie die Männer, zwanzig oder fünfundzwanzig Plätze pro Team haben.“ Deshalb wird es allmählich schwierig, überhaupt das komplette Rennprogramm abzudecken. „Da besteht momentan so’n bisschen ein Ungleichgewicht: Wir haben dreizehn oder vierzehn Mädels pro Team, man könnte aber zwei- oder teilweise sogar dreispurig parallel Rennen fahren.“


Auch im Hinblick auf die Bezahlung in den Teams sieht sie noch Nachholbedarf. „Mit dem Mindestgehalt, das sie bei uns eingeführt haben, ist das so ne Sache. Ist halt so gut gesagt, prinzipiell gibt’s nen Mindestgehalt, das jeder kriegen muss in einem WorldTour-Team. Andererseits ist es wieder so, dass da ein paar Abstufungen fehlen. Das Mindestgehalt kriegen die Juniorinnen, die jetzt in’s WorldTour-Team aufsteigen. Ich bin fünfzehn Jahre Profi und müsste prinzipiell auch nicht mehr kriegen. Das ist noch nicht so hundertprozentig durchdacht von der UCI.“


Vor allem aber ist die Nachwuchsförderung essentiell. Die Fahrerinnen, die später internationale Rennen bestreiten und die Kader der WorldTour-Teams füllen sollen, brauchen zunächst in ihrem direkten Umfeld Strukturen, um sich entwickeln oder überhaupt erst die Leidenschaft für den Radrennsport entdecken zu können. Hier sind die nationalen Radsportverbände gefragt, in Deutschland der BDR und die untergeordneten Landesverbände. Und hier kommt wieder Roubaix ins Spiel. Elisabeth Deignan, Romys ehemalige Teamkollegin, die im vergangenen Herbst die erste Ausgabe gewann, ist durch ein Talentförderprogramm von „British Cycling“ in den Radsport gekommen. Sie wurde in der Schule gescoutet.

Romy geht mit ihrem Verein, dem PSV Forst, in Puncto Nachwuchsförderung mit gutem Beispiel voran. „Wenn ich zuhause bin, was momentan durch den Sport leider wenig ist, mache ich auch Kindersichtungen mit, um zu schauen: Okay, wo ist der Nachwuchs, welchen Nachwuchs können wir akquirieren? Wir gehen da wirklich in die Schulen und setzen die Kinder auf die Rolle, auf’s Fahrrad, um herauszufinden: Was für eine Frequenz können die fahren? Oder auch Schluss-, Dreisprung, verschiedene Übungen, alles was so radsportspezifisch ist. Sowas versuchen wir mit denen zu machen, um zu sagen: Okay, sieht ganz gut aus – hast du nicht mal Lust, zum Radfahren zu kommen und es mal zu probieren?“


Auch in der Rennorganisation für ihren Verein versucht Romy, den lokalen Frauenradsport zu stärken. Sie hat dabei mitgeholfen, in Forst Wettbewerbe für die Frauen-Elite zu etablieren. Da sie so gut vernetzt ist, konnte sie sogar internationale Größen wie die mehrfache Olympiateilnehmerin Olga Zabelinskaya (eine ehemalige Teamkollegin) an den Start locken. Sie selbst tritt ebenfalls gern bei derartigen Rennen an. „Ich versuche, für jedes Jahr zu schauen, ob’s eine Möglichkeit gibt, die bei mir in den Rennkalender passt, um etwas an der Basis zu machen. Vor allem auf der Bahn, weil die Bahn viel vernachlässigt wird. Aber es wird halt immer schwieriger und schwieriger, Geldgeber für solche Veranstaltungen zu finden. Es wie bei uns in ein Steherrennen zu integrieren ist leichter, als ein eigenständiges Rennen komplett zu organisieren.“


Aktuell heißt es für Romy aber erstmal: Vollen Fokus auf Roubaix. Im Anschluss an Nokere Koerse hat sie noch einmal die Gelegenheit zu einer Streckenbesichtigung genutzt und zusammen mit ihrem ehemaligen Trainer Mario Vonhof unter anderem das berühmte Kopfsteinpflastersegment Trouée d’Arenberg unter die Räder genommen. Der große Tag selbst datiert in diesem Jahr auf den 16. April. Also unbedingt im Kalender anstreichen, es wird garantiert eine Übertragung geben! Wer Romy vorher schon sehen möchte, sollte sein Augenmerk auf die Flandern-Rundfahrt diesen Sonntag richten (3. April 2022). Und wer sie nochmal hören mag: Mittlerweile ist sie ein weiteres Mal in den Besenwagen eingestiegen. Allerdings dieses Mal nicht als Gast, sondern um die Crew mit ihrer Expertise im Frauenradsport zu unterstützen ...



© Sarah Finke, 1. April 2022.

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